



Jenseits der Erwerbsarbeit
Theo Wehner
Jenseits der Erwerbsarbeit liegen die Antworten für eine neue Tätigkeitsgesellschaft
Red./ Dieser von der Redaktion leicht gekürzte Essay legt nahe, dass nur durch eine erweiterte Arbeitsforschung die Tätigkeitsgesellschaft des 21. Jahrhunderts gestaltet und die Auswirkungen von Erwerbsarbeit und Arbeitslosigkeit verstanden werden können. Arbeitslosigkeit ist zwar die Ausgrenzung des Individuums aus der Erwerbsarbeit und spiegelt einen Teil der Arbeitsgesellschaft, Erwerbsarbeit ist jedoch bereits um wesentliche Merkmale des Tätigseins reduziert: Das zeigt die Analyse frei-gemeinnütziger Tätigkeiten. Wir danken Prof. Theo Wehner für die Möglichkeit, seine Gedanken über die Grenzen der Erwerbsarbeit in der „Hälfte / Moitié“ publizieren zu dürfen.
Freiwilligenarbeit als Tätigkeitsform
Die Ausgrenzung vom Arbeitsprozess durch Arbeitslosigkeit verweist auf psychosoziale Folgen, die – außer in populistischen Attacken gegen Arbeitslose – die Psychopathologie der Arbeitsgesellschaft kennzeichnen. Um die Bedeutung der Arbeit für den Menschen zu verstehen wird im Folgenden die Erwerbsarbeit und die freie gemeinnützige Tätigkeit (unbezahlte soziale Arbeit) ins Zentrum gerückt.
„Wenn ich das bezahlt bekäme, was ich hier tue, würd’ ich es nicht mehr tun“. Diese und ähnlich lautende Aussagen in Interviews zur Freiwilligenarbeit haben unsere Vermutung bestätigt: Die Motive, Bedürfnisse und Erwartungen, aber auch das Ziel und der Nutzen frei-gemeinnützig tätiger Bürgerinnen und Bürger können durch die Bezahlung der Tätigkeit – sei es in der nicht organisierten Nachbarschaftshilfe oder als Trainerin im Sportverein – korrumpiert oder zumindest in Frage gestellt werden.
Tätigsein aus eigenem Antrieb
Umgekehrt formuliert gehen wir davon aus, dass das Bedürfnis zum Tätigsein aus eigenem Antrieb und aus der Sache heraus motiviert ist. Dies gilt auch wenn es durch Geld, Ansehen oder Machtzuwachs instrumentalisiert, wenn nicht gar ausgebeutet werden kann.
Wenn dies die forschungsleitende Ausgangsthese einer sogenannt erweiterten Arbeitsforschung ist, beinhaltet sie gleichzeitig eine Kritik am Mainstream herkömmlicher arbeitswissenschaftlicher Studien: Da diese sich primär als Erwerbsarbeitsforschung gibt, entgehen ihr andere Motive des Tätigseins. Dies sind Motive und Facetten, die nicht nur für die Weiterentwicklung der Arbeitsgesellschaft, sondern auch zum besseren Verständnis der psychosozialen Folgen von Arbeitslosigkeit bedeutsam sind. Was der Erwerbsarbeitsforschung ebenfalls entgeht, ist eine Gesellschaft, in der die individuelle Existenz durch ein bedingungsloses Grundeinkommen und nicht durch Lohnarbeit gesichert ist.
Weiterarbeiten trotz Lottogewinn
Damit der Tenor des eingangs gewählten Zitats nicht singulär bleibt, sei auf einen weiteren Befund verwiesen: In einer wiederholt durchgeführten europäischen Studie zur Bedeutung der Arbeit sollten sich die Befragten auf folgendes Gedankenexperiment einlassen: „Wenn Sie einen Riesengewinn in der Lotterie erzielt hätten und zur Existenzsicherung nicht mehr arbeiten müssten; was würden Sie tun“? Während jeweils rund ein Sechstel entweder einfach weiterarbeiten oder gänzlich und sofort aufhören würde, stellten sich zwei Drittel vor, unter veränderten Bedingungen weiter zu arbeiten. Mag sein, dass jene, die einfach weiterarbeiten würden, sich nur von den Fesseln befreit fühlen können, die sie selbst gesprengt haben. Und jene 16%, die bezüglich der Arbeitstätigkeit keine Veränderungen vornehmen möchten, wollen sich wohl keinen unnötigen Adrenalinschüben aussetzen. Die verbleibende Zweidrittelmehrheit will nicht nur etwas um seiner selbst willen tun, sondern übt auch Kritik an den momentanen Erwerbsarbeitsbedingungen: Nur unter veränderten Arbeitsbedingungen würden sie weiterarbeiten!
Mehr Zeit haben wollen die meisten
Bis hierher können wir festhalten: Ein Grossteil der Menschen ist, soweit sie existenziell abgesichert sind, bereit, aus eigenem Antrieb heraus zu arbeiten. Darüber hinaus würden viele – ohne Not – auch dann in der Erwerbsarbeit verbleiben, wenn sie die Bedingungen entsprechend ihren Bedürfnissen beeinflussen könnten. Im Laufe der letzten 20 Jahre variierten die zu verändernden Bedingungen unter denen 66% bereit wären auch dann weiter zu arbeiten, wenn sie aus finanziellen Gründen nicht müssten: Waren es früher Bedürfnisse zu mehr Weiterbildung oder Abwechslung hinsichtlich der Aufgaben, so sind es heute insbesondere mehr Zeit zu haben und weniger quantitativen Arbeitsanforderungen ausgesetzt zu sein.
Die Unabhängigkeit ist nicht käuflich
Warum eine mögliche Bezahlung die Motive für die gemeinnützige Tätigkeit in Frage stellt, liegt gemäß den Ausführungen der Interviewten im jeweiligen Unabhängigkeits- oder Autonomieanspruch begründet.
Dies zeigt sich in einer quantitativen Studie zum Stellenwert des Autonomieanspruchs bei den frei und gemeinnützig Tätigen, im Gegensatz zu den Erwerbstätigen: Die Arbeits- und Organisationspsychologie hat Humankriterien guter Arbeit bestimmt und im Hinblick auf ihre Wirkungen erforscht. Wir legten die folgenden sieben Kriterien fest:
► Sinnhaftigkeit (Übereinstimmung gesellschaftlicher und individueller Interessen)
► Zeitelastizität (Freiräume für Interaktion, Kreativität und die Gestaltung der Anforderungen)
► Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten (Erhalt und Entwicklung geistiger Flexibilität, beruflicher Qualifikation)
► Autonomie (Verantwortungsübernahme, Selbstwert- und Kompetenzerleben)
► Soziale Interaktion (gemeinsame Bewältigung von Schwierigkeiten und Belastungen)
► Anforderungsvielfalt (Einsatz vielseitiger Qualifikationen und Vermeidung einseitiger Beanspruchungen)
► Ganzheitlichkeit der Aufgabe (Erkennen der Bedeutung der eigenen Arbeit und Feedback aus der Durchführung).
Bei Freiwilligen steht Sinnhaftigkeit an erster und Autonomie an zweiter Stelle, gefolgt von (3) Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten, (4) sozialer Interaktion, (5) Ganzheitlichkeit, (6) Zeitelastizität sowie (7) Anforderungsvielfalt. Für Erwerbstätige sieht diese Rangreihe ganz anders aus: An erster Stelle stehen hier die soziale Interaktion, danach Anforderungsvielfalt sowie Lern- und Entwicklungsmöglichkeit. Es folgen Sinnhaftigkeit auf Platz vier, Ganzheitlichkeit und Zeitelastizität und Autonomie erst auf dem siebten Rangplatz; gleich übrigens wie bei einer Gruppe von über 100 Betriebsräten!
Der Sinn der Arbeit ist der Kern frei-gemeinnütziger Tätigkeit
Selbstbestimmung – sie ist zwar der wichtigste Anspruch an die frei-gemeinnützige Tätigkeit und wird im Bereich der Lohnarbeit von Erwerbstätigen und Betriebsräten auf den letzten Rangplatz verwiesen. Die Sinnhaftigkeit jedoch belegt nicht nur in der Studie, sondern auch in den Interviews den ersten Rangplatz; dies gilt es abschliessend zu bewerten.
Auch wenn das marktorientierte Unternehmen und seine Mitarbeitenden Sinn herzustellen versuchen, gibt es einen qualitativen Unterschied zwischen einer Freiwilligeninitiative und einer Unternehmung, die mit bezahlten Arbeitskräften realisiert wird: Sowohl der Begründung einer Non Profit-Organisation als auch und erst recht der individuellen Entscheidung für eine frei-gemeinnützige Tätigkeit geht ein sinnsuchender und sinngenerierender Abgrenzungs- und Selektionsprozess voraus. Nicht der vielversprechende Businessplan oder die Lohnvorstellungen und mögliche Vertragssicherheiten sind entscheidend, sondern ein intensives Gespräch darüber, was im gegebenen Kontext Sinn macht. Nur so können das eingangs gewählte Zitat und die Aussage einer freiwilligen Mitarbeiterin eines Netzwerks verstanden werden, die in der Diskussion über monetäre Anreize klar und unmissverständlich äußerte: „das Geld – was ich möglicherweise bekommen würde oder könnte – würde ich wieder stiften, weil ich mich für die Arbeit entschieden habe und nicht für den Lohn“.
Aufmerksamkeit statt Geld
Diese Aussagen verweisen auf eine Ökonomie der Aufmerksamkeit im Gegensatz zur Ökonomie des Geldes: Leistungserbringung und Lohnverzicht, Engagement und hohe Identifikation können aus dem Bedürfnis resultieren, die eigene Aufmerksamkeit gegenüber soziokulturellen Aufgaben und Fragen zur sozialen Gerechtigkeit zum Ausdruck zu bringen und gleichzeitig die Aufmerksamkeit Dritter zu wünschen, zu lenken und erregen zu wollen. Nicht, um deren Geld als Tauschobjekt oder als Entlastungsmoment zu fordern oder anzunehmen, sondern gemeinwohlorientiertes Engagement auszulösen; entweder für die gleiche Sache zu einem anderen Zeitpunkt (Ausgleichsbeziehung) oder eine andere Sache zum gleichen Zeitpunkt (Tauschbeziehung). Dabei darf man jedoch nicht den Rätseln der Nächstenliebe anheimfallen, sondern muss die Voraussetzungen für mehr zivilgesellschaftliches Engagement schaffen – durch ein bedingungsloses Grundeinkommen etwa! Dies jedoch ist eine andere Debatte und sie muss ein anderes Mal geführt werden.
Quellen u.a.:
Aaron Antonovsky, Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit, Tübingen 1997
Gina Mösken/Michael Dick/Theo Wehner, Wie frei-gemeinnützig tätige Personen unterschiedliche Arbeitsformen erleben und bewerten: Eine narrative Grid-Studie als Beitrag zur erweiterten Arbeitsforschung, in: ARBEIT, Zeitschrift für Arbeitsforschung, 19, Heft 1, 2010
Yannick Vanderborght/Philippe van Parijs, Ein Grundeinkommen für alle? Geschichte und Zukunft eines radikalen Vorschlags, Frankfurt/New York 2005
Theo Wehner, Die Re-Humanisierung der Gesellschaft? Psychologische Aspekte eines bedingungslosen Grundeinkommens, Psychoscope, Heft 12, 2009
Theo Wehner/Harald Mieg/Stefan T. Güntert, Frei-gemeinnützige Arbeit, in: Susanne Mühlpfordt/Peter Richter (Hrsg.), Ehrenamt und Erwerbsarbeit, München 2006
Viktor E. Frankl, Der Wille zum Sinn, München 1991
Georg Franck, Ökonomie der Aufmerksamkeit, München 1998
Morton Hunt, Das Rätsel der Nächstenliebe. Der Mensch zwischen Egoismus und Altruismus, Frankfurt/New York 1992
Theo Wehner
Dr. phil. habil., Dipl.-Psych. geb. 1949; Professor für Arbeits- und Organisationspsychologie und Leiter des Zentrums für Organisations- und Arbeitswissenschaft an der ETH Zürich, Kreuzplatz 5, 8032 Zürich.